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I will never love a young boy again: Iceland Airwaves 2010

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Ist für die Nicht-Isländerin im Straßenbild von Reykjavik irgendetwas vom Beinahe-Staatsbankrott zu sehen, an dem die Insel vor zwei Jahren knapp vorbeigeschrammt ist? Die Antwort lautet zunächst: nein. Aber in Gesprächen mit völlig gutbürgerlich daherkommenden Isländern blitzt dann doch etwas auf, was nur als ernste Kapitalismuskritik zu interpretieren ist. In der isländischen Nationalgalerie sind eindrucksvolle Fotografien von Pétur Thomsen ausgestellt, die den Bau eines riesigen Staudamms im Osten Islands künstlerisch dokumentieren. Thomsen interpretiert diese massive Zerstörung der bislang unberührten Landschaft in Fotos voller archaischer Kraft, die nachdrücklicher wirken als jedes Protestplakat. Der Staudamm wurde nur gebaut, um die Stromversorgung eines gigantischen Aluminiumwerkes zu sichern, das der US-Konzern Alcoa auf Island errichtet. Die gepflegte Dame, die in der Nationalgalerie die Besucher empfängt, spricht auf Nachfrage der Polarbloggerin den Namen Alcoa so aus wie ein schlimmes Schimpfwort. Berichtet vom Widerstand der Bevölkerung gegen das Mammutprojekt und von der Beschränktheit der Politiker, die es genehmigten. Von diesen ist heute keiner mehr im Amt. »Diese Politiker sehen aus heutiger Sicht sehr dumm aus, wenn man sich daran erinnert, wie sie zur Grundsteinlegung mit den Alcoa-Leuten Händchen gehalten haben« , sagt die Dame trocken, ummissverständlich wütend. Über den Protest gegen die Zerstörung hat der isländische Autor Andri Snaer Magnason übrigens einen Film gedreht, der in Deutschland leider noch nicht zu sehen war.

Aber zurück zur Musik! Im Nordic House spielen drei junge Damen aus Island, Dänemark und Schweden mit Gitarre, Kontrabass und Banjo und kommen charmanterweise daher wie eine Mischung aus Mary-Ellen Walton und den Puppini Sisters: My Bubba & Mi. Sehr mädchenhaft, aber gleichwohl selbstbewusst erzählen sie, dass Singen beim Geschirrspülen in der WG in Kopenhagen die Initialzündung zur Gründung des Trios war. My Bubba & Mi schaffen eine altmodische, ernsthafte, nostalgische, aber niemals langweilige Stimmung. Wunderbare, fragile Harmoniegesänge und eine feministische Unabhängigkeitserklärung, die so gar nicht kämpferisch daherkommt: »I will never love a young boy again« singen sie mit herzerweichender Tapferkeit. Wir glauben es ihnen beinahe.

Der nächste Act im Nordic House ist ein Pflichttermin, der reinen musikalischen Neugier geschuldet. Wie viele Bands aus Grönland kennen wir? Die logische Antwort: Keine. Das soll sich jetzt ändern mit Nive Nielsen, einer Inuit-Sängerin, die sich dem gepflegtem Folkpop verschrieben und den bekannten US-Countryheroinen ausführlich gelauscht hat. Akustisch kommen die Songs der sympathischen, dauerstrahlenden Chanteuse vielleicht ein wenig zu zahm daher, was aber elektrisch verstärkt druckvoller wirken soll, wie Zeugen glaubhaft versichern. In der anschließenden Fragerunde berichtet Nive, dass Grönland tatsächlich eine sehr lebhafte, aber sehr lokale Musikszene hat. Hui, hätten wir nicht gedacht! Die beiden Inuit-Zuhörer im Publikum sind jedenfalls hin und weg von ihrer Landsfrau.

Auf dem Weg zurück in die Innenstadt noch ganz nebenbei einen der besten Airwaves-Momente bislang erlebt: Die Lieblingspostrocker For A Minor Reflection geben ein Gig im Friseursalon Sjoppan zwischen Föns, Haarspray und Handtüchern. Zu Beginn des Konzerts schneidet der Coiffeur doch tatsächlich dem letzten Kunden die Haare. Für das vollendete Werk des Figaros gibt es Szenenapplaus!

Die entspannendste Vorbereitung auf einen weiteren langen Airwaves-Abend bieten die zahlreichen Rekjaviker Schwimmbäder. Das Schönste ist wunderbarerweise gleich um die Ecke und heißt Sundhöllin. In den 30er Jahren als erstes Hallenbad Reyjaviks erbaut, kann man hier entspannt seine Runden schwimmen und anschließend in 38 und 42 Grad heißen Pools schwerelos vor sich hin sieden.

Die erste Band des Abend im Kunstmuseum sind die dänischen Elektro-Beats-Spezialisten Spleen United, die auf einem dünnen Seil zwischen Syntiepop und Dancefloor-Rythmen elegant balancieren. Strukturierte, unbedingt tanzbare Beats, völlig unvorhersehbare Stroboskopgewitter unter heftigem Körpereinsatz. Das fängt ja gut an!

Auf den nächsten Künstler habe ich mich ganz besonders gefreut: Bang Gang alias Bardi Johannsson, den ungekrönten König des isländischen Melodrama-Pops. Den Meister der großen Gefühle. Den Obernerd und Überdandy. Die Erwartungen werden nicht enttäuscht: Johansson kommt selbstverständlich ganz in Schwarz daher und präsentiert sich als eine krude Mischung zwischen Totengräber, Edelvampir und victorianischem Gentleman. Sehr cool, diese strähnigen Haare, diese dürre Gestalt und die 70er-Jahre-Brille! Der Meister dreht seinem Publikum zunächst nur den Rücken zu und kommuniziert ausschließlich in der Landessprache. Aber nichts mit samtpfotigem Empfindsamkeitspop hier! Bardi und seine Band bieten sehr rockige Versionen der Songs von »GHOSTS FROM THE PAST», dem Must-Have-Album aller gebrochenen Herzen, die trotzig aufbegehren und der Verflossenen androhen, dass sie niemals, niemals aus dieser Geschichte herauskommen wird. Herr Johannsson ist kein armes Opfer, keine Frage. Hier wird mit Mitteln der Musik zurückgeschlagen! Dass der Sound etwas breiig daherkommt, mindert den Genuss allerdings doch ein bisschen.

Wer erleben will, wie ein ganzer Club mit Isländern der Altersgruppe zwischen 15 und 55 kollektiv ausflippt, der muss sich an diesem Abend ins NASA begeben und das erste Konzert des Apparat Organ Quartet seit vielen Jahren sehen. In diesem Herbst soll endlich das lang erwartete neue Album herauskommen. Die fünf Herren sind selbstverständlich kein Quartett, sondern anarchische Techniktüftler, die so klingen, als seien Kraftwerk mit den sieben Zwergen durchgebrannt und hätten die Spielzeugeisenbahn nach Lummerland bestiegen, um dort die Weltrevolution auszurufen. Äußerlich kommt das Quintett daher wie Sachbearbeiter der örtlichen Kreissparkasse. Aber Himmel! Sie bringen mit elektronischen Bliepereien das NASA zum Kochen: Vom Pubertierenden bis zum Schwiegervater scheint jeder Inselbewohner diese Songs auswendig pfeifen zu können. Allgemein überbordende Euphorie.

Noch einen Tick experimenteller wird es ganz zum Schluss mit Ghostdigital, dem Projekt von Einar Örn, ehemals Sugercubes. Songstrukuren sucht man hier vergebens. Herr Örn und seine Truppe, zu der ausnahmsweise auch ein Schlagzeug und zwei Blechbläser gehören, toben sich wie ein Wirbelsturm über Landstrichen aus, die da den Namen Weird Electronics, wilder Rock, assoziatives Schreien, improvisierte Dichtkunst und irgendwie, ähm, karibischen Hip Hop tragen. Örn selbst ist als Sänger eine Naturgewalt von hohen Gnaden und sitzt übrigens seit den letzten Kommunalwahlen im Stadtparlament von Reykjavik. Einfache Kost ist das nicht, aber hey!, Konsensmusik will hier keiner hören. Mitleidlos zwingen Ghostdigital zum Mittanzen, Mittorkeln, Mit-Sich-Hingeben in bislang underforschte Klangwelten. Im Publikum zu dieser späten Stunde vor allem isländische Musikerkollegen, viele Mitglieder jüngerer Bands, die dem Vorbild Tribut zollen. Mit Recht!

ghost digital @ nasa from arnthorsnaer on Vimeo.


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